"Alle Kunst ist Maß..."

Wilhelm Lehmbrucks "Kleine Sinnende" im Lindenau-Museum

Vor etwas mehr als 100 Jahren starb Wilhelm Lehmbruck. In nur 38 Lebensjahren hat er ein Werk geschaffen, das bis heute aufgrund seiner „Andersartigkeit“ nachwirkt. Auch im Lindenau-Museum gibt es mit der „Kleinen Sinnenden“ ein Werk des einflussreichen Bildhauers, das bis zur Schließung des Museums am 2. Januar 2020 in der Dauerausstellung zu sehen war.

Bei der gerade einmal 51 Zentimeter großen Skulptur Wilhelm Lehmbrucks handelt es sich um einen modernen Neuguss des Künstlers Waldemar Grzimek. Die „Kleine Sinnende“ entstand 1911 – in einer für Wilhelm Lehmbruck bewegten Zeit: Nach ersten Erfolgen in Deutschland zog er ein Jahr zuvor, 1910, mit seiner Familie nach Paris, wo er bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges lebte. Er knüpfte Kontakte zur internationalen Künstler-Avantgarde und besuchte sogar Auguste Rodin in seinem Atelier, dessen berühmte Figur „Das eherne Zeitalter“ ebenfalls im Lindenau-Museum verwahrt wird. Bedeutsam für die künstlerische Entwicklung Lehmbrucks war seine Pariser Zeit, weil er in diesen vier Jahren eine eigene Formensprache entwickelte. Hauptwerke wie „Die Kniende“, „Emporsteigender Jüngling“ oder die „Große Sinnende“ sind wie die „Kleine Sinnende“ Idealtypen im ganz eigenen Stil des Bildhauers, für die er bis heute bekannt ist.

Die raumgreifenden Figuren bestechen durch überlängte Gliedmaßen und einen in sich versunkenen Ausdruck. Harmonie und stimmige Proportionen früherer Jahre verlieren sich allmählich. Derlei Eigenheiten in der Darstellungsweise finden sich auch in der „Kleinen Sinnenden“ Lehmbrucks. So offenbaren sich auch in ihr unnatürlich wirkende Gliedmaßen. Hier ist vor allem der überlange Hals mit seiner extremen Beugung hervorzuheben. Obwohl er sich mit dem Kontrapost – der Darstellung von Stand- und Spielbein – an klassische Formen der Bildhauerei anlehnt, fällt das stark nach vorn gestellte Spielbein auf. Zudem ist der Oberkörper auffällig in sich gedreht. Die starke Beugung des Halses und die damit einher gehende Senkung des Kopfes führen zu einem fast meditativen Charakter der Figur.

Wilhelm Lehmbruck, Kleine Sinnende, Neuguss, Original 1911

Dass er der Bewegung des menschlichen Körpers eine besondere Bedeutung beimaß, zeigt sich auch in zwei Druckgrafiken Lehmbrucks, die sich ebenfalls im Besitz des Lindenau-Museums befinden und in den Pariser Jahren entstanden sind. Der Kunstkritiker Paul Westheim, selbst ein großer Lehmbruck-Kenner, schreibt folgendes zur Darstellung des Menschen bei Lehmbruck: „Es ist (…) höchst interessant, aus dem Vielerlei an Vorstudien und Varianten zu ersehen, um was es ihm eigentlich zu tun ist, wie er die Massen gegeneinander verschiebt, wie er einen Linieneinzug vereinfacht, um ihn innerlich bewegter, vielsagender zu machen, wie er den Ausdruck zu veredeln und ins Seelische zu wenden bestrebt ist.“

Mit der Skulptur der „Kleinen Sinnenden“ hat Lehmbruck eine Art Blaupause für die Werke kommender Jahre geschaffen. Die ungewöhnliche Darstellung des menschlichen Körpers, die expressiven Formen und die den Figuren dennoch innewohnende große Emotionalität sorgten dafür, dass er 1913 auf der bedeutenden Armory Show, einer internationalen Kunstausstellung in den Vereinigten Staaten, als einziger deutscher Bildhauer ausstellen durfte. Dass Wilhelm Lehmbruck Auguste Rodins „Denker“ etwas despektierlich als „so muskulös wie einen Boxer“ bezeichnete, zeugt darüber hinaus von einem ganz anders gelagerten, eigenen Schönheitsbegriff.

Druckgrafiken Wilhelm Lehmbrucks

Nach seinem Wegzug aus Paris 1914 lebte er für zwei Jahre in Berlin, anschließend zog er mit seiner schwangeren Frau Anita und den beiden Kindern nach Zürich. Auch hier blieb Lehmbruck seinem Ideal treu und fertigte weitere Werke mit den für ihn typischen Charakteristika an. So entstand 1916 der „Gestürzte“ – eine seiner berühmtesten Skulpturen und zugleich Reaktion auf die Schrecken des Ersten Weltkriegs.

Der andauernde Krieg, eine unglückliche Liebe sowie eine hartnäckige Erkrankung belasteten die seelische Gesundheit Wilhelm Lehmbrucks während seiner Zürcher Jahre zusehends. Er verfiel in Depressionen und nahm sich 1919 nach einer gescheiterten Auftragsarbeit in Berlin das Leben.

Lehmbruck übte einen großen Einfluss auf nachfolgende Künstlergenerationen aus. So dankte Joseph Beuys noch 1986 „seinem Lehrer“ Wilhelm Lehmbruck: „Ich habe mich nur aufgrund von Wilhelm Lehmbruck entscheiden können, mich mit der Plastik zu befassen.“

Die „Kleine Sinnende“ Wilhelm Lehmbrucks ist Bestandteil einer etwa 150 Werke umfassenden Sammlung von Plastiken im Lindenau-Museum. Ihr Schwerpunkt liegt auf der deutschen Plastik des 20. Jahrhunderts. Darunter befinden sich unter anderem Arbeiten von Ernst Barlach, Georg Kolbe und Gerhard Marcks. Mit ihnen versuchte der frühere Museumsdirektor Hanns-Conon von der Gabelentz eine Verbindung zu den Kollektionen Bernhard-August von Lindenaus herzustellen. Mit Skulpturen von (u.a.) Willy Wolff, Fritz Cremer und Wieland Förster nehmen auch Künstler aus der Zeit der DDR einen bedeutenden Platz in der Sammlung ein. 

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