Gerhard Altenbourg im Detail //2 - O Hebros o Hebros
Gerhard Altenbourg (1926–1989)
O Hebros o Hebros, 1981
Aquarell, Gouache, Pitt-Kreide, chinesische Tusche, Bleistift, Litho-Kreide und Kasein-Wachsseife-Tempera auf gelblichem Velin
66 x 26,7 cm
Lindenau-Museum Altenburg
WV 81/32
Ein kühn gezogener Streifen azurblauer Aquarellfarbe bildet das Fundament des Blattes. Im Vertrauen auf das pur schimmernde Sehnsuchtsblau gewinnt der Streifen seine bildbeherrschende Bedeutung: Es ist der Fluss Hebros, der Griechenland von der Türkei, Europa von Asien trennt oder wie eine sanfte Fuge miteinander verbindet. In unseren Tagen ist wieder viel von diesem Fluss die Rede. Auf der türkischen Seite warten syrische Flüchtlinge, auf der griechischen Seite rüstet sich die EU und baut Zäune.
An den Ufern des Flusses schreitet, nein, verharrt, mit nackten Füßen an der Wasserkante haftend, eine Figur. Ein Mischwesen aus dem Heiligen Christophorus und einem Eremiten, zögerlich wartend, ob das Wasser trägt. In schnellen Schwüngen zog Altenbourg die Beine mit dunkelbrauner Kreide über den Schopf bis zum Kinn hinauf. War die Struktur der Figur in wenigen Handbewegungen rasch auf das Blatt gebannt, verlor sich Altenbourg danach mit dem Bleistift in einem stundenlangen Einzeichnen mikroskopischer Härchen und Pünktchen. Die nur rudimentär wiedergegebenen Hände scheinen etwas in Empfang nehmen zu wollen. Aus dem übergroßen, leicht zum Betrachter geneigten Kopf blicken zwei Pupillen in azurnen Höhlen. Ein heiter gekräuselter Mund lässt Milde walten.
Der Hintergrund ist in horizontale Bänder unterschiedlicher Höhe gegliedert. Über dem Fluss hebt ein Teppich aus rötlichen Linien an, darüber Aquarellbänder, die in Höhe des Kopfes zu losen Gebilden in Orange, Grün und Gelb wuchern. Wie ein Gedankenfeuerwerk entströmen der Schädelplatte rot, grau und schwarz getupfte Funken. Ist der Boden Wasser und die Mittelzone Wüste, so quillt im oberen Viertel die Vegetation. Zwischen oben und unten vermitteln breit gepinselte blaugraue Flächen, die auf den ersten Blick wie Störungen in der Horizontalstruktur wirken.
Der Hebros, wie ihn die alten Griechen nannten, heißt heute Evros, die Türken nennen ihn Meric, die Bulgaren Mariza. Zwischen seinen Ufern strömt Geschichte und Mythos zusammen. Von den griechischen Lyrikern wurde der Hebros verehrt: Alkaios von Lesbos besang ihn als den Schönsten aller Flüsse. Ovid berichtet in seinen „Metamorphosen“ davon, dass Orpheus von Mänaden, die er beleidigt haben soll, zerrissen wurde. Seinen Kopf warfen die zürnenden Bacchantinnen samt seiner Lyra in den Hebros, von wo er, ohne dass der Tod seinem Gesang Einhalt geboten hätte, bis vor die Insel Lesbos im Ägäischen Meer gespült wurde. Erst der Gott Apoll brachte ihn zum Schweigen. Den grausamen Mord des Sängers verarbeitet der von Altenbourg hochgeschätzte Gottfried Benn zu dem Gedicht „Orpheus Tod“ (1948).
Sehnsüchtige Klänge sind in den Fugen, Geweben, Punkten und Lineamenten hier wie auf vielen anderen von Altenbourgs Zeichnungen immer präsent. Oft hat sich Altenbourg auf Orpheus, den einsamen Sänger und Lauscher der Natur, bezogen. In seinen frühen Holzschnitten der 1960er Jahre findet sich ein „Orphisches Zauber-Lied“; kurz darauf heißt ein Holzschnitt „Lied an den Hebros“ und ein 1963 gefertigtes Künstlerbuch mit Zeichnungen und handgeschriebenen Gedichten „In den Hebrosfluss hinab“. Überhaupt entstanden in jenen Jahren viele Werke, die mit dem Element Wasser in seinen unterschiedlichsten Erscheinungsformen spielen. In einem anderen seiner aufwendig gestalteten Bücher („tatauierte Litaneien“) schreibt der zeichnende Dichter: „Für Altenbourg heißt Leben: Gehen und Vergehen. (Und schließlich in den Hebrosfluß hinab.)“
Hier scheint ein Schlüssel zum Verständnis des Blattes zu liegen: Es ist eine Reflexion über das ständige Werden und Vergehen, ein Kreislauf, dem sich auch der Mensch einfügt. Man steigt nie zweimal in den gleichen Fluss. Das wusste Altenbourg nicht erst von dem griechischen Philosophen Heraklit. Die Zeit bringt Wandel, Grenzen zwischen den Völkern und Kontinenten entstehen und vergehen. Der Gesang des Orpheus im Angesicht des Todes war für Altenbourg ein erschütterndes, aber auch Hoffnung gebendes Bild.
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