Werkbetrachtung: Gerhard Altenbourgs "Janus und die Kinder der Zeit" (1955)

Gerhard Altenbourg (1926–1989) hat sich zeitlebens sehr für antike Mythologie interessiert, die immer wieder auch Eingang in sein Werk gefunden hat. Anhand der prächtigen Zeichnung „Janus und die Kinder der Zeit“ (1955) lässt sich dies gut nachvollziehen. Der Titel bezieht sich auf Janus, den römischen Gott von Anfang und Ende, der den Ursprung der Dinge symbolisiert, aber auch unvereinbare Gegensätze in sich vereinigt. Im alten Rom wurden Janusskulpturen als Hüter und Torwächter von Gebäudeein- und -ausgängen eingesetzt. Im Künstlerhaus von Gerhard Altenbourg, welches er während der SED-Diktatur bewohnte und gestaltete, finden sich sowohl die Zeichnung „Janus“ von 1961 als auch mehrere selbst entworfene Kupfer- und Messingarbeiten, die auf den doppelköpfigen Janus Bezug nehmen. Die künstlerische Auseinandersetzung ist also eng mit seinem unmittelbaren Lebensumfeld verwoben. In seinem Künstlerbuch „O Janus oh Janus“ (1960) heißt es dazu passend: „Schaue rechts links schaue / Schaue nach oben schaue nach unten / Doch immer siehst Du nur Dich in Dich hinein". In einem Brief an Erhart Kästner bekannte Altenbourg außerdem, der „Komplex des Janushaften“ stehe für „Ambivalenz [...], Doppeldeutigkeit, für Mehrschichtigkeit und oft auch für Zweigeschlechtlichkeit, als Eins von Mann und Weib“ (1969, aus: E. Kästner: "Das dritte Auge", 1992, S.55). Damit platzierte der Künstler ein unerwartet aktuelles Thema queerer Ambivalenzen.

Gerhard Altenbourg, Janus und die Kinder der Zeit, 1955, Aquarell und Tempera auf grauem Italienisch-Ingres, Lindenau-Museum Altenburg (Inv.-Nr. Z 16666) © Stiftung Gerhard Altenbourg

Auf dem kleinteiligen Querformat auf grauem Papier, mit feinem Pinsel in Aquarell und Tempera bearbeitet, sind im zentralen Vordergrund zwei in Gelb ausgemalte Figuren vor blauen und rötlichen bzw. schwarz gestrichelten Flächen zu sehen. Diese Gestalten scheinen aus dem Blatt herauszublicken.

Um die fantastisch anmutenden Figuren mit einerseits rotem, zweigeteiltem Schädelumriss (Janus) und andererseits schnabelartigem Profil reihen sich weitere Figuren, die wirken, als strebten sie in verschiedene Richtungen. Übertragen auf zeitliche Dimensionen dürfte die Komposition aus Schemen, Traumfiguren und ungegenständlichen Flächen zwischen „Anfang und Ende“ der Zeit angeordnet sein. Aus dem oberen Bilddrittel blickt eine weitere rötliche Gestalt einäugig aus einer offenen Fläche hervor, als käme sie aus einer tieferen, hinter der Darstellung liegenden Bildfläche. Damit ist sowohl die individuelle Wahrnehmung von Zeit (und Raum) wie auch der Gegensatz von Traum und Wirklichkeit angesprochen. Zugleich ist die Komposition Ausdruck des künstlerischen Selbstfindungsprozesses. „Wenn ich zeichne“, so Altenbourg 1987, „trete ich aus der Zeit heraus.“ Altenbourg wird gewissermaßen selbst zu einem Protagonisten und Bewohner der eigenen Fantasiewelt. Damit steht er dem fantastischen Realismus nahe, einer von Hans Bellmer (1902–1975) und Salvador Dalí (1904–1989) aus dem Surrealismus entwickelten Stilrichtung, zu welcher sich Altenbourg selbst aber nie ausdrücklich bekannt hat.

Das Blatt darf als ein Schlüsselwerk Gerhard Altenbourgs angesehen werden. Es ist eine der ersten Arbeiten des Künstlers, die bereits 1956 vom Lindenau-Museum Altenburg erworben wurden. 1957 war sie in der bis 1989 einzigen Ausstellung zu Altenbourgs Werken im Lindenau-Museum erstmals öffentlich zugänglich und anschließend im Kunstkabinett Berlin (1958) ausgestellt. Der während der DDR als Sonderling kritisch beäugte Gerhard Altenbourg war Repressalien ausgesetzt und wurde 1964 wegen eines Zollvergehens (dem Verkauf von Drucken in den Westen) zu zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Unter anderem aus diesem Grund würdigte man ihn erst zwei Jahrzehnte später in Ausstellungen.

Die Zeichnung „Janus und die Kinder der Zeit“ war nach 1989 in Altenburg erst wieder in der Ausstellung „Gerhard Altenbourg und die Antike“ (2013) sowie in „Altenbourg in Altenburg“ (2016) zu sehen. Zuletzt wurde das Blatt in Gegenüberstellung mit Werken von Carlfriedrich Claus 2021 in Chemnitz präsentiert.

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