Runzeln und feine Furchen erscheinen auf dem Negativ als kaum wahrnehmbares Netz
von Kapillaren, als helle Gräten. Man muß das Negativ auf ein schräges, von unten stark
beleuchtetes Mattglas legen und mit einem sehr weichen, nadelspitzen Bleistift so lange
schattieren, bis zwischen den helleren und dunkleren Tönungen kein Unterschied mehr
besteht. Ein guter Retuscheur verletzt die Emulsion nicht, läßt jedoch die Grätenspuren
der Runzeln auf dem Negativ verschwinden und gleicht die Flecken der Haut sorgfältig
aus. Das Retuschieren von Positiven ist mit trockener chinesischer Tusche vorzunehmen,
mit einem harten, scharfen, sehr feinen Pinsel; mit einer diagonal entzweigebrochenen
Giletteklinge sind schwarze Kratzer oder dunkler getönte Flecken abzuschaben. Zumindest
bei uns wurde es so gemacht, als ich am Beginn der Sechzigerjahre in einem großen
Budapester Atelier fotografieren lernte. Sicherlich hat es Barbara Klemm ebenso gemacht,


Péter Nádas


als sie Ende der Fünfzigerjahre in einem Karlsruher Atelier in die Lehre ging. Das sich
vom Krieg erholende Europa stand noch in einer gemeinsamen kulturellen Tradition. Der
Fotograf mußte die Realität mittels Retuschen in die Nähe der ästhetischen Illusion der Zeit
rücken. In ihren illusionslosen Bildern erkenne ich mich selbst. Mit unendlicher Geduld die
Emulsion des Papierbildes mit der scharfen Klingenspitze schaben, dann die Pinselspitze
zwischen die Lippen stecken, einspeicheln, ein wenig Tuschfarbe damit auflösen.
Der hervorragendste Retuscheur in unserem Atelier war eine ältere Frau, der eine Zahl an der
Innenseite ihres Unterarms eintätowiert war und die während der Arbeit mit einem ganz
leise gestellten Radio klassische Musik und Opern hörte. Es gab keinen Fleck, den sie nicht
hätte spurlos zum Verschwinden bringen können. Während wir nebeneinander arbeiteten
und sie die Qualität meiner Arbeit mit vorsichtiger Aufmerksamkeit überwachte, erörterte


Das magische Schwarz


sie die gesendeten Opern, oder Auschwitz. Nichts konnte am leisen, nachdenklichen Tonfall
ihrer Erzählungen etwas ändern. Von allem, was existiert und geschieht, emotionalen
Abstand halten. Die Zerstörung um uns herum hatte solche Ausmaße, daß die Minuten
anders vielleicht nicht zu ertragen gewesen wären. Mit keiner Retusche konnte man mehr
die gesellschaftlichen Utopien oder ästhetische Illusionen in die Nähe der Realität rücken,
und so kam dann auch der Moment, wo man gegen sie rebellieren mußte. Wenngleich
diese Rebellion in Karlsruhe sicherlich ganz anders aussah als in Budapest. Die Frau,
die in Auschwitz gewesen war, sagte mir einmal unvermutet und ganz ohne jeden Übergang,
außer der Kunst gebe es nichts auf der Welt, das einen Sinn habe. Gibt es auch nicht,
weder damals noch heute. Die authentische Kunst der Nachkriegszeit wurde von der
Leere des Weiß und der Tiefe des Schwarz beherrscht, von dem Bedrohlichen und dem


der Barbara Klemm


Unerträglichen, vom Über- und Unterbelichteten. Camus' emotionale Wüste und Becketts
emotionale Nacht. Barbara Klemm überliefert uns mit ihren Bildern die eigentümlichsten
emotionalen Grundzüge dieser Epoche. Die Strenge des Abstandhaltens, die nie verge-
hende Trauer, die wache Aufmerksamkeit voll Anteilnahme, die um Verständnis bemühte
Kontemplation. Auf jedem ihrer Bilder gibt es ein strahlendes Schwarz. Was bedeutet,
daß sie den überbelichteten Raum aus dem Blickwinkel eines unterbelichteten oder
im Schatten stehenden Gegenstandes betrachtet. Sie entwickelt sozusagen auf dieses
Schwarz hin. Ihr Schwarz tritt quasi aus dem Gegenstand heraus. Was auf dem Negativ
leicht unterbelichtet ist, überentwickelt sie leicht auf dem Positiv. Dadurch scheint der
Gegenstand seine eigenen Umrisse aufzugeben oder verlassen zu wollen. Diese zwei
fache Ausstrahlung und Spannung verleiht ihren Bildern ihr magisches und persönliches
Gepräge. Was wiederum bedeutet, daß, wie auch immer wir das klassische Gebot
des Erkenne dich selbst zu befolgen hofften, offenbar geworden ist, Ich ist nicht länger Ich.

 

(Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer)


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